Das Kostbarste aller Güter - Kinostart: 06.03.2025

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Ein Animationsfilm, der eine Geschichte aus dem dunkelsten Kapitel der ...
 
... europäischen Geschichte erzählt, kann durchaus funktionieren, wenn die Macher sich ihrer Verantwortung bewusst sind …
 
Es war einmal in einem großen Wald …
 
Während des Dritten Reichs lebt ein Holzfäller mit seiner Frau in einem Wald. Die Güterzüge, die den Wald durchqueren, bringen Menschen in ein nahe gelegenes Konzentrationslager. Eines Tages findet die Frau des Holzfällers neben den Gleisen einen in eine Decke gewickelten Säugling. Die Frau zögert keine Sekunde und beschließt das kleine Mädchen als ihr eigenes Kind aufzuziehen. Aber das ist ebenso gefährlich wie schwierig …
 
Der Regisseur und Drehbuchautor Michel Hazanavicius hatte seinen Durchbruch in Frankreich mit den beiden Agentenfilm-Parodien „OSS 117“, die außerhalb Frankreichs kaum Beachtung gefunden haben. International bekannt wurde er mit „The Artist“, der 2012 unter anderem mit dem Oscar für den besten Film und den für die beste Regie ausgezeichnet wurde. Ich will mich nicht lange darüber auslassen, wie verdient diese Oscars waren (2011 war wohl wirklich ein schwaches Film-Jahr. Für den besten Film waren unter anderem „The Help“, „Extrem laut & unglaublich nah“ und „Moneyball“ nominiert.).
 
Hazanavicius‘ erfolgreichste Arbeiten weisen gewisse Gemeinsamkeiten auf. Die beiden „OSS 117“-Filme sind recht zahme, naive Parodien von Filmen, die sich zahmen, naiven Parodien entziehen, weil sie selbst sich nie ernst genommen haben und immer naiv waren. „The Artist“ hat mit seinem fehlenden Dialog davon ablenken können, wie altmodisch und ebenfalls naiv dieser Film war. (Hazanavicius’s nach „The Artist“ entstandenen Filme können wir getrost ignorieren. Das internationale Kinopublikum hat das auch getan.)
 
„Das kostbarste aller Güter“ wirkt über weite Strecken noch naiver als Hazanavicius‘ frühere Arbeiten. Ja, mir ist natürlich klar, dieser Film soll wie ein Märchen wirken. Aber das funktioniert vielleicht am Anfang so halbwegs und dann bald kaum noch und irgendwann gar nicht mehr. Wenn die Frau ihren Mann „Holzfäller“ nennt, mag das noch wie in einem Märchen klingen. Aber der Mann nennt seine Frau im Gegenzug „Holzfällerin“ und das klingt nicht mehr märchenhaft sondern unfreiwillig komisch.
 
Die visuelle Gestaltung des Films erinnert an die Illustrationen eines Kinderbuchs. Und auch hier erkennen wir wieder die Absicht, das Ganze wie ein Märchen wirken zu lassen. Aber irgendwann kann man nicht mehr ignorieren, wie wenig es deshalb zu sehen gibt. Die Hintergründe wirken leer und statisch. Die Figuren lassen vor allem in dramatischen Szenen zu wenig Ausdruck erkennen. Nicht nur hier stehen die künstlerischen Entscheidungen des Filmemachers der Wirkung des Films im Weg.
 
Man fragt sich irgendwann, für wen dieser Film gemacht wurde. Für kleine Kinder ist er unter anderem wegen drastischer Gewaltszenen ungeeignet. Größere Kinder werden sich langweilen, wenn sie nicht über die unfreiwillig komischen Szenen schmunzeln, was ihnen sicher böse Blicke der Lehrerschaft eintragen wird (der zukünftige Einsatz dieses Films im Schulunterricht ist mehr als wahrscheinlich, war die literarische Vorlage doch mal für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert). Davon abgesehen darf man annehmen, dass der Film im Feuilleton mehr Beachtung finden wird als an der Kinokasse.
 
Wir haben hier also einen Film, der wegen des Anspruchs und der künstlerischen Entscheidungen seiner Macher weniger für das zahlende Publikum als für die Filmpresse und den Schulunterricht gemacht wirkt. Das ist nichts Neues und auch nicht das Schlimmste, das man über einen Film sagen kann. Michel Hazanavicius hat aber einige wirklich merkwürdige Entscheidungen getroffen, die aus einem eher belanglosen Film einen problematischen Film machen.
 
Und dann eines Tages …
 
Wie erwähnt, hat Hazanavicius versucht, seinen Film wie ein Märchen zu gestalten. Die Frau ist kreuzbrav und grundgütig und betet zu den „Göttern des Zuges“. Der Holzfäller erkennt, woher das Kind stammt und will es nicht im Haus haben, weil das Kind einem „herzlosen Volk von Dieben“ angehört, das „Jesus ermordet“ hat. Zeilen wie „Die Herzlosen haben kein Herz“ lassen erkennen, Dialog zu schreiben ist nicht die größte Stärke des Drehbuchautors Hazanavicius. Praktisch der gesamte Dialog des Films klingt naiv und pathetisch und erklärt immer wieder, was man besser im Bild gezeigt hätte.
 
Die Hauptfiguren agieren so übertrieben naiv, dass es teilweise einfach nur noch einfältig wirkt. Eine Figur wird zum Guten bekehrt, weil sie u.a. den Herzschlag eines Löffels und eines Zauns zu spüren meint. Im späteren Verlauf der Handlung erscheint der Tod eines guten Menschen absolut vermeidbar und wirkt dadurch weniger tragisch als leider nur dumm. Mit dieser märchenhaft naiven Haltung seiner Figuren erweist Hazanavicius seinem Film einen Bärendienst. Denn die vielen Menschen, die Juden und Vertreter anderer verfolgter Gruppen während des Holocaust unter Einsatz ihres eigenen und des Lebens ihrer Familien geholfen haben, waren keine naiven Märchengestalten.
 
Unter den Tausenden Mördern des Dritten Reiches, seinen Hunderttausenden Mitläufern und den Millionen Menschen, die vor Angst hilflos waren, gab es einige wenige, die bewusste, mutige Entscheidungen getroffen haben. Sie hatten der überwältigenden Maschinerie der Grausamkeit nur ihre eigene Güte entgegenzusetzen. Sie waren die Bewahrer der Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten. Sie achtzig Jahre später in einem Film als naive, fast dümmliche Figuren darzustellen, ist im höchsten Maße problematisch und ehrt das Andenken dieser großartigen Menschen nicht im Geringsten.
 
Weitere Entscheidungen der Filmemacher führen zu ähnlichen Ergebnissen. Eine Szene, in der es wirkt, als wären die Schreie von deportierten Juden für ihre Nachbarn und Mitbürger nicht zu hören gewesen, kann sehr leicht missverstanden werden. In einer gruseligen Sequenz werden die Gesichter der im KZ Ermordeten als verzerrte Fratzen gezeigt, die kaum noch als menschlich zu erkennen und nicht zu unterscheiden sind. An der Stelle möchte man Michel Hazanavicius anschreien! Die Opfer des Nationalsozialismus hatten alle ihre eigenen Gesichter! Sie waren eben keine anonyme Masse! Hier wurden Millionen von Individuen ermordet! Und es waren ihre Mörder, die sich geweigert haben, sie als Menschen mit eigenen, unterschiedlichen Gesichtern wahrzunehmen.
 
Ein umständlich konstruiertes Pseudo-Happy End wäre für sich genommen belanglos. Der Off-Text, den man den Erzähler (im französischen Original der 2022 verstorbene Jean-Louis Trintignant) darüber sprechen lässt, macht aus dem Ende aber ein echtes Ärgernis. Der Text beginnt tatsächlich mit den Worten: „Es scheint als wäre diese Geschichte ein Märchen und nichts davon sei tatsächlich passiert …“. Es ist selbstverständlich klar, dass dieser Text nicht so gemeint sein soll. Aber im Jahr 2024 auch nur anzudeuten, der Holocaust wäre Teil eines Märchens und hätte gar nicht stattgefunden, ist die schlimmste der vielen Fehlentscheidungen dieses merkwürdigen Films.
 
 
Fazit
 
Vielleicht war sich Autor und Regisseur Michel Hazanavicius seiner Verantwortung wirklich nicht bewusst. Vielleicht ist er wirklich so naiv wie sein Film wirkt. Aber die verschiedenen künstlerischen Fehlentscheidungen lassen seinen gut gemeinten Film leider einfach nicht funktionieren.
 
 
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Weitere Informationen

  • Autor:in: Walter Hummer
  • Regie: Michel Hazanavicius
  • Drehbuch: Jean-Claude Grumberg
  • Besetzung: Grégory Gadebois, Dominique Blanc