Und wieder ein Film „NACH EINER UNGLAUBLICHEN WAHREN GESCHICHTE“.
„Unglaublich“ stimmt. Aber „wahr“ …?
Fazit am Anfang
Üblicherweise beenden wir hier bei cinepreview.de die Rezensionen mit einem Fazit zum Film. In zwei oder drei Sätzen fassen meine Kolleg*innen und ich unsere Beurteilungen des Films zusammen. Ich möchte dieses Fazit heute an den Anfang der Rezension stellen: „Der Salzpfad“ ist ein netter kleiner Film. Die schönen Bilder der britischen Küstenlandschaft und die sympathischen Leistungen der Hauptdarsteller*innen können nicht über das banale Drehbuch und die dünne Story hinwegtäuschen.
Kommen wir zur dünnen Story: Raynor und Moth, ein Ehepaar in den Fünfzigern, erfahren, Moth leide an cortikobasale Degeneration (CBD). Diese neurodegenerative Krankeit (ähnlich Parkinson) wird dem Mann nur noch recht wenig Lebenszeit lassen. Gleichzeitig verlieren die beiden buchstäblich Haus und Hof. Es bleiben ihnen bloß noch 40,- Pfund pro Woche zum Leben. Sie entschließen sich, den Salzpfad entlang der britischen Küste zu wandern. Die Wanderung ist hart und dauert Monate. Aber durch die Kraft der Liebe und des positiven Denkens überwindet der todkranke Moth am Ende seine Krankheit und lebt nach mehr als 10 Jahren glücklich und zufrieden mit seiner Raynor zusammen, die mittlerweile einen Beststeller über all das Erlebte geschrieben hat.
Diese dünne Story ist so dünn, dass sie mich nach wenigen Minuten Laufzeit stutzen ließ. Im Film wird vermittelt, das Ehepaar sei wohl Opfer eines Schwindels und/oder Justizirrtums geworden. Ein „wahrer Schuldiger“ ist kurz im Bild zu sehen und es wird ein Brief erwähnt, der nicht als Beweismittel zugelassen wurde. Aber in einem Film, in dem alles Mögliche immer wieder aus- und angesprochen wird (der Hauptdarsteller muss uns z.B. erzählen, dass seine Beschwerden zurückgegangen sind. Man verlässt sich nicht auf seine Darstellung.), erfahren wir nie, wie es kommen konnte, dass Raynor und Moth innerhalb von 5 Tagen Ihr Haus verlassen müssen und plötzlich obdach- und mittellos dastehen.
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https://www.cinepreview.de/index.php/item/1169-der-salzpfad-kinostart-17-07-2025#sigProId816f0bb6b4
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Die dünne Story des Films ist ein größeres Problem, als zunächst befürchtet. Mittlerweise hat sich herausgestellt, eben diese Story des Films und des Beststellers, der die Vorlage bildet, ist nicht einfach nur dünn. Sie ist auch weitgehend erlogen. In einer Zeit, in der echter, hochwertiger Investigativjournalismus selten geworden ist, kann ich jedem Leser nur dringend raten, Chloe Hadjimatheous Artikel im „Observer“ vom 05.07.2025 zu lesen. Dieser Artikel ist nicht nur spannender und unterhaltsamer als Buch und Film „Der Salzpfad“ zusammen. Die Ergebnisse der Interviews, die Hadjimatheou mit acht verschiedenen Betroffenen geführt hat, sind einfach faszinierend.
Ich versuche den Artikel zusammenzufassen: Die jetzige Bestsellerautorin Raynor Winn, hieß früher Sally Walker und hat unter diesem Namen mindestens 64.000,- britische Pfund bei einem früheren Arbeitgeber unterschlagen. Raynors/Sallys erste „Wanderung“ führte sie im Jahr 2008 zu einem Verwandten namens James. Dieser James besorgte Sally einen Anwalt und lieh ihr ganze 100.000,- Pfund, damit sie ihr Opfer entschädigen und so einer Haftstrafe entgehen konnte. Der bestohlene Arbeitgeber ging auf das Angebot ein. Das Haus der Walkers diente als Sicherheit für das Darlehen von James, das zu einem späteren Zeitpunkt zurückgezahlt werden sollte.
Leider geriet James selbst in finanzielle Schwierigkeiten. Seine Gläubiger übernahmen 2010 das offenstehende Darlehen und wollten bei Sally Walker kassieren. Diese weigerte sich zu zahlen. 2012 landete der Fall vor Gericht. 2013 bestätigte das Gericht die Rechtmäßigkeit des Anspruchs der Gläubiger, aber Sally Walker wollte noch immer nicht bezahlen. Stattdessen versuchte sie ihr Haus bei einem selbst organisierten, aufwendigen Gewinnspiel zu verlosen, dessen Details alleine die Lektüre des Artikels im Observer lohnen. Im Zuge des Gewinnspiels wurde das Haus als „unbelastet“ beworben. Tatsächlich diente es nicht nur als Sicherheit für das erwähnte Darlehen. Es lastete auch eine Hypothek von 230.000,- Pfund darauf. Das Haus war also bewusst mit einer Gesamtsumme belastet worden, die seinen Wert weit überstieg.
Was die Walkers mit den Einnahmen aus dem Gewinnspiel angestellt haben, ist unklar. Zur Gewinnausschüttung kam es nie. Nebenbei besaßen sie zu der Zeit seit 2007 ein Haus in Frankreich, das sie vor Gericht nie erwähnt haben. Dieses Haus gehört den Walkers immer noch und sie schulden dem französischen Staat übrigens immer noch Grundsteuer dafür. 2013 wurde das britische Haus zwangsgeräumt. Es entspricht also zumindest ein kleiner Teil des Anfangs von Film und Buch der Wahrheit. Doch damit nicht genug.
Die Journalistin Chloe Hadjimatheou besuchte die aktuellen Besitzer des Hauses. Diese erzählte, wie noch Jahre später ein langer Strom von Zahlungsaufforderungen, Mahnungen und anderer Schreiben bezüglich unbezahlter Rechnungen, Kreditkartenabrechnungen und allerlei Schulden der Walkers an diese Adresse zugestellt wurde. Der Betreiber einer Werkstatt im Ort, dem Walker noch immer 800,- Pfund schuldet, hatte zwar von dem Film mit Gillian Anderson gehört, aber keine Verbindung mit Sally Walker hergestellt.
Aber was macht es, wenn das Ehepaar Walker/Winn ein vermögen an unbezahlten Schulden hinterlassen haben? Im Buch und nun im Film geht es um die spirituelle Reise der beiden und wie Moth/Tim auf dieser Reise die Kraft gefunden hat, mit seiner schweren Krankheit umzugehen, sodass er trotz ursprünglich furchtbarer Prognose, seit mehr als einem Jahrzehnt beschwerdefrei mit cortikobasaler Degeneration (CBD) lebt. Nun auch dazu hat Hadjimatheou für den Observer recherchiert. Und das Ergebnis dieser Recherchen fällt eher noch schlimmer aus.
Experten geben die Lebenserwartung für CBD mit sechs bis acht Jahren an. Etwa diese Prognose ist übrigens auch im Film zu hören und auch, dass Moth bereits seit sechs Jahren Symptome gezeigt hat. Im Film wird nicht erwähnt, dass CBD-Patienten einen großen Teil dieser sechs bis acht Jahre leider rund um die Uhr pflegebedürftig verbringen, bevor sie unweigerlich sterben müssen. Moth Winn/Tim Walker hat seine Diagnose 2013 erhalten. Er lebt 2025 also seit insgesamt achtzehn (!) Jahren mit CBD, die letzten elf davon immer wieder weitgehend beschwerdefrei. Um das Ganze abzukürzen: keiner der befragten Neurologen und anderen Experten hält es anhand der Beschreibungen in den Büchern für möglich, dass Moth Winn tatsächlich an CBD leidet.
Nun habe ich ein paarhundert Wörter geschrieben und die allerwenigsten davon über den Film „Der Salzpfad“. Ja, weil dieser nette kleine Film mit seinen schönen Bilder der britischen Küstenlandschaft und sympathischen Leistungen der Hauptdarsteller*innen zur Nebensächlichkeit verkommt, vor der gesammelten Dummheit sämtlicher Beteiligter. Wie konnten sämtliche an der Veröffentlichung des Buches beteiligten Verlagsmitarbeiter so dumm sein, diese Story zu glauben, die hinten und vorne keinen Sinn ergibt? Wie konnten mehr als eine Million Leser weltweit so dumm sein, auf diesen Käse hereinzufallen? Wie konnten sämtliche Verantwortlichen bei allen beteiligten Produktionsgesellschaften dieses neuen Films so dumm sein, nicht zu überprüfen, was seit Jahren in Internetforen von echten CBD-Betroffenen zu lesen ist?
Und was hat es mit dieser Besessenheit von „wahren Geschichten“ auf sich? Hat man aus den Lehren von „The Blind Side“ und „A Million Little Pieces“ nichts gelernt? Was soll das Publikum mit diesen ewigen „wahren Geschichten“ überhaupt? Was sagt es über die Qualität des Films aus, wenn ich bereits in der Einladung zur Pressevorführung von einer „tiefgründigen, wahren Geschichte“ lesen muss? Warum füllt im Trailer zum Film die Botschaft „NACH EINER UNGLAUBLICHEN WAHREN GESCHICHTE“ in Großbuchstaben die ganze Leinwand?
Einer der besten Filme der letzten Jahre, „Nomadland“, ist nicht „based on a true story“. Er basiert auf dem Sachbuch einer richtigen Autorin und echten Journalistin, die sich eingehend und professionell mit der realen Situation moderner Wanderarbeiter beschäftigt hat. Auf der Grundlage dieses Sachbuchs hat Chloé Zhao ein realistisches Drama um echte Menschen geschrieben und inszeniert. Der fertige Film war dann ein menschlich berührendes Meistwerk, das vorsichtig geschätzt tausendmal besser ist als „Der Salzpfad“.
Apell statt eines Fazits
Liebe Studiobosse, bitte hört auf, uns mit diesen Filmen „based on a true story“ zu langweilen. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich den letzten Film „nach einer wahren Geschichte“ gesehen habe, der mir nicht auf die Nerven ging. Bitte lasst Profis, echte Filmemacher*innen, echte Kreative echte Filme drehen. An „Der Salzpfad“ waren zwei überaus kompetente Darsteller*innen und ein junge Regisseurin beteiligt, die gerne mit ihrer guten Arbeit reüssiert hätten. Nun sind sie Teil einer Lächerlichkeit, die niemand ernst nehmen kann. Also bitte verschont uns doch in Zukunft mit verzweifelter Schein-Authentizität aus zweiter Hand, die keinen echten künstlerischen oder sonstigen Wert hat.
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