„Desktop-Filme“ wie „Unknown User“ oder „Searching“ sind ...
... zurzeit recht populär. Aber wird ein Film besser, wenn er sich zur Gänze auf einem Computerbildschirm abspielt?
Siri, call June!
Die Achtzehnjährige June sieht sich auf ihrem PC ein altes Video an, das ihren verstorbenen Vater, sie und ihre Mutter zeigt. Dann wird sie von ihrer Mutter über Facetime angerufen. Später verabschiedet sich Mama von June, um mit ihrem neuen Partner Kevin nach Kolumbien zu reisen. Weil June alles an ihrem PC macht und offensichtlich nie die Kamera ausschaltet, ist das alles auf ihrem Bildschirm zu sehen. Später sehen wir, wie June eine Party feiert und am Morgen danach ihre Mutter und Kevin vom Flughafen abholen will. Aber die beiden waren gar nicht im Flugzeug ...
„Desktop-Filme“ oder „Screenlife-Filme“ sind seit ein paar Jahren ziemlich angesagt. Man könnte jetzt zynisch sein und meinen, das hätte weniger künstlerische als wirtschaftliche Gründe. Immerhin werden Filme wie „Unknown User: Dark Web“ oder „Searching“ von Studios wie Blumhouse oder Stage 6 Films produziert, die für geringe Budgets bekannt sind. Und wenn alles aussieht als wäre Webcams, Überwachungs- oder Handykameras gefilmt worden und der Ton nur vom PC kommt, kann man an der Arbeit der Beleuchter, Kamera- und Tonleute wirklich Geld sparen.
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https://www.cinepreview.de/index.php/item/847-missing-kinostart-23-02-2023#sigProIde606aa55ff
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Modeströmungen wie diese gab es im Film schon immer. Als Kameras in den Neunzehndreißiger Jahren beweglicher wurden, gab es bald mit subjektiver Kamera gedrehte Filme. Die UFA wandte diese Technik in „Der Florentiner Hut“ 1939 zum ersten Mal in einer längeren Sequenz an. 1947 wurde in „Die Dame im See“ die Handlung komplett aus der Sicht des Detektivs Philip Marlowe gezeigt. Im gleichen Jahr wurde die erste halbe Stunde von „Dark Passage“ aus der Sicht des Protagonisten gezeigt, bevor man dann aber Humphrey Bogart zu sehen bekam. Heute sind zwei dieser drei Filme nur noch Filmhistorikern bekannt.
Ein etwas jüngeres Beispiel für eine solche Mode im Film, wäre „Found Footage“. Natürlich gibt es auch ältere Beispiele für diese Technik. Aber nachdem um die Jahrtausendwende Digitalkameras billiger wurden und „Blair Witch Project“ bei einem bloß sechsstelligen Budget mehr als eine Viertelmilliarde Dollar eingenommen hatte, folgten bald jede Menge Filme, die sich des gleichen Kunstgriffs bedienten. „REC“, „Cloverfield“ und „Quarantäne“ sind nur einige der bekannteren Beispiele.
Desktop-Filme haben viel mit Found Footage-Filmen gemeinsam. Denn so wie man sich bei „Cloverfield“ oder „Quarantäne“ irgendwann fragt, warum die Protagonisten selbst in Momenten höchster Gefahr immer noch filmen und die Filmemacher sich dafür mehr oder weniger plausible Erklärungen ausdenken müssen, so muss man sich bei Desktop-Filmen wundern, warum die Protagonist*innen alles aber auch wirklich alles über ihre PCs machen?
Menschen führen Videoanrufe, obwohl ein einfaches Telefongespräch reichen würde. Gespräche die in der Realität auf jeden Fall persönlich geführt würden, werden fernmündlich erledigt. In „Missing“ kommuniziert ein FBI-Agent mit der jungen Heldin ausschließlich über ihren PC. Hat das FBI in diesem Film kein Büro in Los Angeles, das einen Beamten vorbeischicken könnte?
Und selbst wenn in seltenen Ausnahmefällen mal persönlich miteinander gesprochen wird, hält eine Webcam oder eine Überwachungskamera alles fest. Zu Beginn des Films verabschieden sich erst der Freund der Mutter und dann die Mutter selbst von der Protagonistin. Die Achtzehnjährige June nimmt all das mit ihrem Computer auf weil ...? Keine Ahnung. Mir fällt kein Grund ein. Welche Achtzehnjährige sitzt denn überhaupt dauernd an einem richtigen Computer mit Tastatur, wenn sie nicht gerade Hausaufgaben macht? Nicht nur Teenager, wir alle benutzen doch privat meistens Smartphones oder Tabletts. In der Welt von „Missing“ sitzt ein junges Mädchen aber ständig am Schreibtisch.
Motion detected at your door
Noch ein kleiner Filmwissenschaftlicher Exkurs: Der bekannte Filmemacher Timur Bekmambetow ist nicht nur einer der Co-Produzten von „Missing“ sondern von fast allen bekannten Desktop-Filmen der letzten Jahre. Vor einiger Zeit hat er in einem Aufsatz für das bekannte Filmmagazin „MovieMaker“ drei Regeln für Desktop-Filme festgelegt. Ich fasse diese kurz zusammen:
- Einheit des Orts: Der Ort der Handlung ist ein ganz bestimmter Bildschirm. Die Handlung darf diesen Bildschirm nie verlassen.
- Einheit der Zeit: Der Film soll in Echtzeit stattfinden. Schnitte dürfen nicht erkennbar sein. Das bedeutet enorme Herausforderungen und Verantwortung für den Filmschnitt.
- Einheit des Tons: Aller Ton im Film kommt aus dem Computer.
„Missing“ verletzt tatsächlich jede einzelne dieser Regeln. Der von Timur Bekmambetow mitproduzierte Desktop-Film „Missing“ erfüllt also nicht einmal Bekmambetows eigene Anforderungen an Desktop-Filme. Trotzdem wird der Film gerade von der Kritik gefeiert (84% auf Rotten Tomatoes und damit „fresh“).
Die Einheit des Orts wird nicht beachtet. Wir sehen mittendrin eine Montage die während einer Party über einen längeren Zeitraum von mehreren Smartphones aufgenommen wurde. Wer sollte diese Montage zusammengeschnitten haben und warum? Und wer sollte sie sich an diesem Punkt der Handlung ansehen und warum? Die Antwort auf beide Fragen lautet: niemand. Diese Sequenz ergibt keinen Sinn. Das Gleiche gilt für eine ebenfalls geschnittene Sequenz, in der die Heldin sich selbst filmt, während sie am Flughafen wartet. Niemand würde dieses Material schneiden und es sich an diesem Punkt der Handlung ansehen, weil es dafür keinen Grund gibt.
Die Einheit der Zeit wird nicht beachtet. Die Handlung erstreckt sich über einen langen Zeitraum. Tatsächlich bleibt unklar, wie viel Zeit vergeht. Aber es sind sicher Tage, wenn nicht sogar Wochen. Ebenso unbeachtet bleibt die Einheit des Tons. Wir hören Gespräche über einen Computer, die mehrere Meter vom Gerät stattfinden. Wir hören Gespräche, die mit einfachen Überwachungskameras aufgenommen wurden. Wir hören jede Menge Gespräche, die wir auf dem Computer niemals hören würden.
Warum schreibe ich so viel über diese Regeln und das Konzept des Desktop-Films? Weil der Film davon abgesehen, fast gar nichts zu bieten hat. „Missing“ oder andere Desktop-Filme zu sehen, ist ein bisschen so wie im Zirkus einen Hund Klavier spielen zu sehen. Der Hund spielt sicher nicht gut. Er spielt sicher etwas ganz Einfaches, die ersten paar Takte von „Für Elise“ oder etwas Ähnliches und man kann es trotzdem kaum erkennen. Interessant ist die Darbietung nur, weil es eben ein Hund ist, der Klavier spielt.
Und auch an „Missing“ ist nur interessant, dass sich alles auf dem Computerbildschirm abspielt. Davon abgesehen haben wir hier einen schwachen Thriller, dessen strohdumme Handlung keinerlei Sinn ergibt. Der Plan des Täters ist vorsichtig geschätzt Tausendmal umständlicher als nötig und basiert auf so vielen Unwahrscheinlichkeiten und Glücksfällen, er hätte Monate vor dem Einsetzen der Handlung scheitern müssen. Alles was sich „Jigsaw“, jeder Bond-Bösewicht und sämtliche von Inspektor Columbo überführten Mörder ausgedacht haben, wirkt dagegen vergleichsweise simpel und improvisiert.
Das Finale des Films ist nur möglich weil jemand eine Person, die er nach allen Gesetzen der Logik und auch des Wahnsinns längst umgebracht haben müsste, über die gesamte Zeit der Handlung in einem simplen Schuppen eingesperrt hatte und diese Person sich in all der Zeit nie befreien konnte. Der Film bietet auch keinerlei Erklärung, warum der Täter bis zu den letzten zehn Minuten des Films wartet, um mit der jugendlichen Heldin Kontakt aufzunehmen.
Der stets verlässliche Joaquim de Almeida („Das Kartell“, „Desperado“) spielt seine Nebenrolle sehr viel besser als das in diesem Film möglich sein dürfte. Davon abgesehen gibt es über die Leistungen der anderen kaum bekannten Darsteller*innen rund um Storm Reid („Das Zeiträtsel“) wenig zu berichten. Selbst die größten Schauspielgenies könnten nicht brillieren, wenn sie dauernd entgeistert in Webcams starren oder vor Überwachungskameras herumstolpern müssten.
Fazit
Ein Film wird nicht besser, wenn er sich zur Gänze auf einem Computerbildschirm abspielt. Dieser nette Kunstgriff allein reicht nicht aus, um einen unterdurchschnittlichen Thriller mit dummdreister Handlung interessant zu machen.
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