“Männer sind, … und Frauen auch. Überleg Dir das mal!“
Diese wichtige Lebensweisheit wusste bereits Loriot an seinen Sohn weiterzugeben. Trotzdem überlegen sich die meisten Filmemacher nicht viel, wenn es um Männer und Frauen oder Erotik und Sex gehen soll, …
I wanna be normal!
Romy ist erfolgreich. Das von ihr gegründete Unternehmen setzt Standards im Bereich der Robotik. Romy hat eine tolle Familie. Die beiden Töchter sind wohlgeraten. Ihr Ehemann ist ein erfolgreicher Künstler und verehrt seine Frau. Aber Romy verbirgt etwas vor ihrem Mann. Und als ein junger Praktikant in ihrem Büro anfängt, Grenzen zu überschreiten, wehrt sie sich nicht lange dagegen …
Welches ist das unrealistischste Filmgenre? Oder welche Art von Filmen oder auch nur Sequenzen werden von Filmemachern weltweit regelmäßig immer wieder so gedreht, wie sie in der Realität niemals ablaufen? Klar, in Actionszenen geht dem unverwundbaren Helden nie die Munition aus. In Horrorfilmen gehen die Teenager immer noch nachts in den Wald, obwohl sie sich eben erst über den Killer unterhalten haben, der dort sein Unwesen treibt. In Science-Fiction-Filmen fahren wir in wenigen Jahren alle fliegende Autos und fremde Planeten haben alle die Atmosphäre und Schwerkraft der Erde. In romantischen Komödien finden herzensgute, intelligente Göttinnen nie einen netten Kerl, der mit ihnen ausgehen will und so weiter und so fort …
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https://www.cinepreview.de/index.php/item/1101-babygirl-kinostart-30-01-2025#sigProIdb3a14da93b
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Ich meine, die größten Unterschiede zwischen Film und realen Leben bekommt man immer dann geboten, wenn es um Erotik und Sex geht. Egal ob Marlon Brando und die weniger als halb so alte Maria Schneider beim ersten Treffen praktisch wortlos übereinander herfallen und einander gegenseitig zum Höhepunkt vögeln oder ob Mr. Grey gleich weiß, was die jungfräuliche Heldin braucht (nachdem sie eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben hat), kaum jemals wurde Erotik und Sex im Film als etwas Komplexes und Kompliziertes dargestellt, für das sich zwei Menschen einander erst einmal annähern müssen und woran sie oft sogar nach vielen Jahren scheitern.
Halina Reijn hat einen überaus interessanten, originellen und wichtigen Film gedreht, der auf vielen Ebenen funktioniert. Aber der interessanteste, originellste und wichtigste Aspekt dieses Films ist die überaus realistische Darstellung von Erotik und Sex. Romy hat Bedürfnisse, diese sie in all den Jahren mit ihrem Mann nie ausleben konnte, ja über die sie bisher noch nicht einmal richtig mit ihm gesprochen hat. Und selbst als sie beginnt, einen jungen Mann in Hotelzimmern zu treffen, läuft nicht alles gleich ab wie in ihren wildesten Träumen.
Und wenn diese Romy alles riskiert, was sie sich aufgebaut hat, dann nicht weil sie eine dumme Gans ist, die nicht an die Konsequenzen denkt. Selbst die bloße Annäherung an das, was ihr jahrzehntelang gefehlt hat, wirkt ebenso befreiend wie belebend. Wenn die Erfüllung einiger ihrer geheimsten Begierden ihr endlich wichtig ist, wird anderes dadurch nicht unwichtig. Wenn die Heldin Fehler begeht, dann nicht weil sie dumm ist, sondern bloß menschlich.
Halina Reijn ist als Regisseurin und Drehbuchautorin ein seltenes Kunststück gelungen: Ein Film über Erotik und Sex zwischen intelligenten Menschen für intelligente Menschen. Weder Romy, noch ihr Ehemann, noch eine der Nebenfiguren muss dumm sein, damit der Film weitergehen kann. Und niemand im Publikum muss sein Gehirn abschalten, um diesen Film sehen zu können. Ich weiß, ich zitiere oder paraphrasiere „The Dark Knight“ recht oft. Aber wenn „Shades of Grey“ der Film ist, den das Publikum braucht, ist „Babygirl“ der Film den es verdient.
We’re equally responsible
Natürlich ist der Film nicht perfekt. Halina Reijn hat bisher erst einen Film inszeniert („Bodies Bodies Bodies“) und ihr zweiter Film hat nicht nur raue Ecken und Kanten, er ist an einigen Stellen direkt uneben geraten. Den jungen Praktikanten, gerade als sich alles zuspitzt, einen Lehrfilm über sexuelle Belästigung sehen zu lassen, ist nicht eben subtil. Wenn die Heldin alleine und niedergeschlagen daheim Zeit verbringen muss, kann man das auch weniger plump zeigen. Und die Hündin (muss ich die englische Vokabel für „Hündin“ hier niederschreiben?), die dem jungen Praktikanten aus der Hand gefressen hat, war schon zu Beginn des Films kein besonders subtiles Bild. Uns das Ganze am Ende nochmal explizit zu zeigen, ist nicht bloß unnötig sondern eindeutig zu viel des Guten.
Der Soundtrack von „Babygirl“ verdient den Hans-Zimmer-Förderpreis bei der nächstjährigen Verleihung der Darren-Aronofsky-Awards für besonders subtile Filmkunst. Aber man ist geneigt, diese und andere Unebenheiten zu ignorieren, wenn man sieht, was alles an diesem Film glatt gelaufen ist. Und für das Meiste davon ist die großartige Besetzung unter der Regie von Halina Reijn verantwortlich.
Der junge Harris Dickinson brilliert nach „Triangle of Sadness“ wieder in einer sehr körperbetonten Rolle. Die Anzüge und Saccos, die er als Praktikant im Büro tragen muss, passen ihm nicht recht und sind leicht als Verkleidung erkennbar. Sein Flirten mit der Chefin wirkt grenzüberschreitend, solange wir nicht daran denken, wie anders wir das Verhalten wahrnehmen würden, wäre seine Figur weiblich und der Vorgesetzte ein Mann. Antonio Banderas hat seit seinen frühen Filmen mit Pedro Almodóvar einen langen Weg zurückgelegt. Und in letzter Zeit hat er mit Filmen wie „Die fantastische Reise des Dr. Dolittle“ oder „Indiana Jones und das Rad des Schicksals“ nur arg ausgetretene und langweilige Pfade beschritten. Ein Glück, wenn er immer mal wieder mit seinem alten Weggefährten Almodóvar unterwegs ist oder er den Weg zu einem Projekt wie „Babygirl“ findet. Banderas spielt den Ehemann nie als Klischee, sondern immer als eigenständige, vollständige Person und wertet so den Film und die Leistung der Hauptdarstellerin auf.
„Babygirl“ ist ein Fest für eine große Schauspielerin. Nicole Kidman zeigt eine komplett ausgeglichene Darstellung einer unausgeglichenen Frau. Sie wirkt überzeugend stark als Konzernchefin und ebenso überzeugend verzweifelt, wenn ihrer Figur alles zu entgleiten droht. In einer großartigen Szene gegen Ende vermittelt sie sogar, wie eine wirklich starke Frau die Kontrolle vielleicht kurzzeitig verlieren aber nie wirklich abgeben kann.
Ich schreibe nur selten über das Aussehen von Darsteller*innen, weil es in der Regel nebensächlich ist oder sein sollte. Aber Nicole Kidman sieht in „Babygirl“ nicht einfach nur großartig aus. Ihr Aussehen wirkt nicht einfach nur überzeugend. Es ist ein wichtiges darstellerisches Werkzeug.
Wir erinnern uns noch wie Frau Kidmann vor einigen Jahren in „Der Goldene Kompass“ abwechselnd auf das arme Äffchen einprügeln und es dann wieder herzen musste, weil die Schönheitschirurgie ihr Gesicht damals jeder Ausdrucksmöglichkeit beraubt hatte. Aber auch die Schönheitschirurgie hat sich weiterentwickelt und Frau Kidman lässt die Fachleute in letzter Zeit wohl viel besonnener an sich arbeiten.
Gerade weil sie in „Babygirl“ nicht versucht, wie dreißig auszusehen, passt ihr Aussehen ganz hervorragend zu ihrer Rolle und wird zu einem wichtigen Teil ihrer Darstellung. Nicole Kidman sieht mit Mitte Fünfzig so toll aus, wie eine Frau dieses Alters nur aussehen kann. Und das entspricht ihrer Figur der Romy, die mit Mitte Fünfzig ebenso toll aussehen würde, wie eine Frau dieses Alters nur aussehen könnte. So ergibt die Optik zusammen mit Kidmans Können und ihrer Einsicht in die Figur eine Leistung, die innerlich wie äußerlich ein homogenes Ganzes bildet.
Fazit
Ein intelligenter, origineller Film über Männer und Frauen, Erotik und Sex, Macht und Kontrollverlust. Kleinere Detailmängel werden von der hervorragenden Besetzung überspielt.
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