Eileen - Kinostart: 14.12.2023

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Mit welchem Einheitsbrei das Kinopublikum zum größten Teil abgespeist wird, ...
 
... merkt man als Filmfan besonders deutlich, wenn man ausnahmsweise mal einen Film sieht, der es wagt, anders zu sein …
 
Get a life, Eileen!
 
Die junge Eileen arbeitet im Massachusetts der 1960er-Jahre als Schreibkraft in einem Jugendgefängnis. Die Arbeit ist langweilig und deprimierend. Daheim trinkt ihr Vater sich langsam zu Tode, nachdem er als Polizeichef zwangspensioniert wurde. Den Weg zwischen Arbeit und Zuhause legt sie in einem schrottreifen Auto mit kaputter Abgasanlage zurück. Als die attraktive, lebenslustige Psychologin Rebecca in der Strafanstalt zu arbeiten beginnt und sich mit Eileen anfreundet, ändert sich plötzlich alles …
 
„Eileen“, nach „Lady Macbeth“ der zweite Spielfilm des britischen Regisseurs William Oldroyd, ist sicher nicht perfekt. Das Drehbuch von Luke Goebel und Ottessa Moshfegh nach Moshfeghs Buchvorlage funktioniert nur zu 90%, was den ganzen Film nur zu ungefähr 91% funktionieren lässt. Aber diese 91% funktionieren ganz hervorragend und bescheren uns einen der interessantesten Filme des Jahres.
 
„Eileen“ zeigt uns wunderbar, dass man Film gar nicht neu erfinden muss. Man muss nur den Mut haben, innerhalb des Bekannten dieser Kunstform neue Wege zu gehen. Man kann jede Art von Film gut machen, wenn man nur einmal etwas Neues probiert. Man kann sich durchaus altvertrauter Muster bedienen, wenn man sie nur mit Neuem füllt. Und selbst wenn der eine oder andere mutige Versuch am Ende nicht funktioniert, wird das Ganze noch immer Eindruck hinterlassen und uns nicht langweilen.
 
Das Muster „Junger Mensch aus der Provinz wird von erfahrenem, weltgewandten Menschen verführt und benutzt“ ist uns nicht nur aus den Filmen Hollywoods schwarzer Serie längst vertraut. Und mit überraschenden Wendungen im dritten Akt (die meistens gar nicht so überraschend ausfallen) quält man uns auch nicht erst seit „The Sixth Sense“ immer wieder gern. Aber wie dieses bekannte Muster und dieser längst langweilige Kunstgriff in „Eileen“ mit neuem Leben gefüllt werden, hat etwas ganz Besonderes.
 
Besonders ist auch, dass Regisseur Oldroyd und die Autor*innen Goebel und Moshfegh ihr Publikum nicht für dumm halten. Sie zeigen tatsächlich Vertrauen in unsere Fähigkeit, die Handlung selbst zu sehen und zu erfahren. Wenn bereits in der zweiten Szene eine junge Frau alleine in ihrem Auto auf einem Parkplatz sitzt, den andere junge Leute für intime Begegnungen nutzen und wir sehen, wie sie sich abkühlen muss, erkennen wir schnell, diese junge Frau hat vielleicht ein Problem.
 
Wenn sie in der dritten Szene wie selbstverständlich zwei Flaschen Schnaps neben dem Sessel des Vaters abstellt, erkennen wir, diese junge Frau hat vielleicht nicht nur ein Problem. Ebenso lahm wie überraschende Wendungen im dritten Akt sind mittlerweile Szenen, die sich nach einer furchtbaren Entwicklung plötzlich Haha! Überraschung! als Traum- oder Fantasiesequenzen entpuppen. Ich dachte, dieses Muster hätte längst jeden Reiz verloren. In „Eileen“ bekommen wir gleich drei dieser überraschenden Fantasiesequenzen geboten und jede ist kurz, prägnant und tatsächlich überraschend. Im Gegensatz zu Beispielen in vielen anderen Filmen, sind diese Szenen hier nicht einfach nur Kunstgriffe um ihrer selbst willen. Sie lassen uns erkennen, wie eine Figur denkt und fühlt.
 
Und so kann sich Spannung aufbauen. Wenn wir beobachten, wie die Hauptfigur die Aufmerksamkeit und Vertraulichkeiten der erfahrenen, aufregenden Fremden genießt während sie zuhause die beiläufigen, ewigen Beleidigungen und den Terror des versoffenen Vaters erdulden muss, stellt sich gar nicht mehr die Frage, ob es im Leben der jungen Frau zum Bruch kommt, sondern nur noch wie bald und wie.
 
Das alles zeigt uns Kameramann Ari Wegner in wunderschön deprimierender Farblosigkeit. Wenn diese dann vom knalligen Rot eines neuen Thunderbird unterbrochen wird, wirkt dieser wie ein Fremdkörper in der Landschaft und wir wissen, die Fahrerin dieses Fahrzeugs ist besonders, ist anders, ist fremd. Wenn die junge Frau sich an einem bestimmten Punkt der Handlung schminkt und Lippenstift auflegt, erkennen wir, auch sie will besonders sein, will anders sein, will weg.
 
 
Some people, they’re the real people
 
Eine der mutigsten Entscheidungen der Macher dieses Films war es, kompetente Schauspieler*innen echte Menschen darstellen zu lassen. Sowas hat man früher öfter mal probiert, bevor die Studios festgestellt haben, dass man mit Superhelden, Monstern, alten Männern in schnellen Autos und pensionierten Killern, die bei der kleinsten Kleinigkeit wieder anfangen Leute totzuschießen, viel mehr Geld verdienen kann.
 
Siobhan Fallon Hogan ist eine dieser Nebendarstellerinnen, die man in Dutzenden Filmen in kleinen aber wichtigen Rollen gesehen hat. Sie war unter anderem die Busfahrerin in „Forrest Gump“, die Geisel mit der großen Klappe in „Verhandlungssache“ und in „Men in Black“ hat eine außerirdische Schabe sich die Haut ihres Mannes übergezogen. Hier vermittelt sie in wenigen Szenen die tiefsitzende Unzufriedenheit ihrer Figur und liefert ein abschreckendes Beispiel für die Heldin.
 
Shea Whighams Namen kennt fast niemand. Aber sein Gesicht ist jedem Filmfan vertraut. Er wirkte erbärmlich in dieser Filmserie über alte Männer in schnellen Autos. Er wirkte gefährlich in „Kong: Skull Island“. Und er wirkte stets kompetent in „Mission: Impossible – Dead Reckoning Teil Eins“. In „Eileen“ überzeugt er als selbstzerstörerischer, bösartiger Trinker. Hoffentlich bekommen wir Whigham bald in einer Hauptrolle in einem anspruchsvollen Drama zu sehen.
 
Die großartige Anne Hathaway hat ihr komisches Talent in so unterschiedlichen Filmen wie „Plötzlich Prinzessin“, „Get Smart“ oder „Ocean‘s 8“ bewiesen. Und ihr dramatisches Talent hat uns in Filmen wie „Rachels Hochzeit“, „Les Misérables“ oder „Colossal“ bewegt. In Thrillern konnte sie bisher kaum überzeugen. Ihre Catwoman war nicht das Beste an Christopher Nolans schwächstem Batman-Film. Und ihre Darstellung in „Im Netz der Versuchung“ war beinahe unfreiwillig komisch. Aber andererseits war der ganze Film unfreiwillig komisch, also kann man ihr dafür vielleicht keinen Vorwurf machen.
 
In „Eileen“ wirkt Hathaway verführerisch, ohne vulgär zu sein. Sie wirkt exotisch, ohne skurril zu sein. Sie wirkt kantig, ohne sperrig zu sein. Ihre Darstellung wirkt im besten Sinne des Wortes altmodisch, erinnert sie doch an große Vorbilder der Vergangenheit wie Lee Remick, Eve Marie Saint oder Gloria Grahame. Dabei wirkt sie nie wie eine Imitation sondern bleibt stets eine eigene, moderne Version der Dame mit eigenen Plänen.
 
Wer sich während „Jojo Rabbit“ ein bisschen in Thomasin McKenzie verliebt hat, wird ihr während „Eileen“ verfallen. Diese junge Frau spielt stark und verletzlich, verwirrt und entschlossen, verliebt und enttäuscht. Sie vermittelt uns die ganze Ambivalenz eines Lebens und bleibt dabei immer menschlich. Sie wirkt so nahbar, wir möchten sie in den Arm nehmen und trösten.
 
Thomasin McKenzie hat eine große Karriere vor sich. Man wird sich in der Zukunft daran erinnern, wie sie „Eileen“ fast komplett zu ihrem Film und das Publikum zum ersten Mal im Lauf ihrer Karriere sprachlos gemacht hat.
 
 
Fazit
 
Ein mutiger Film, der innerhalb bekannter Muster neue Wege einzuschlagen wagt. Die großartige Besetzung spielt locker über die kleinen Schwächen des Drehbuchs hinweg.
 
 
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Weitere Informationen

  • Autor:in: Walter Hummer
  • Regie: William Oldroyd
  • Drehbuch: Ottessa Moshfegh
  • Besetzung: Thomasin McKenzie, Anne Hathaway: