Clint Eastwood hat mit 94 Jahren einen weiteren Film inszeniert. Und der Film ...
... wird von der Kritik gefeiert. Aber warum eigentlich und wofür?
Sometimes truth isn’t justice
Justin lebt glücklich und zufrieden mit seiner Frau, die demnächst ein Kind erwartet. Da passt es ihm gar nicht, dass er als Geschworener bei einem Mordprozess verpflichtet wird. Ein junger Mann soll seine Freundin ermordet und in den Straßengraben geworfen haben. Die anderen Geschworenen sind von der Schuld des Angeklagten überzeugt, bloß Justin nicht. Und die Gründe für seine Zweifel sind ganz besondere …
„Juror #2“ wird auf der linken Seite des Atlantiks gerade von der Filmpresse gefeiert. Ich schreibe diese Zeilen Anfang Dezember und der Film hat aktuell 94% auf rottentomatoes Dazu ein paar Vergleiche: „Raging Bull“ hat 88%, „Lawrence of Arabia“ gerade mal 93% und „Gran Torino“, der Film, der die Grenze zwischen Eastwoods frühem und späten Spätwerk bildet, hat lächerliche 81%. Die Unterscheidung von Eastwoods Spätwerk in ein frühes und ein spätes Spätwerk kann man übrigens in meiner historischen Abhandlung anlässlich seines weitgehend misslungenen letzten Filmes „Cry Macho“ (mit 58% auf rottentomatoes immer noch überbewertet) hier nachlesen.
Die allgemeine Begeisterung für „Juror #2“ ist nachvollziehbar. Die meisten Filmkritiker sind nicht mehr ganz junge Männer. Klar, es gibt auch einzelne Filmkritikerinnen. Und in den Pressevorführungen sitzt immer wieder auch der eine oder andere Mann unter Vierzig, einen nennenswerten Anteil bildet diese demografische Gruppe aber fast nur bei Comicverfilmungen. Aus irgendeinem Grund zieht ein Job, bei dem man wildfremde Menschen des langen und breiten über ein Thema belehren kann, das einem am Herzen liegt, vor allem Männer in mittleren Jahren an. Schwer zu sagen, woran das liegt …
Aber ich schweife ab. Wir halten fest: viele Filmkritiker sind Männer in mittleren Jahren. Wir sind mit Eastwoods Schaffen aufgewachsen. Mehr noch, wir haben unseren Filmverstand und unser filmisches Auge entwickelt, während Eastwood sich als Filmemacher entwickelt hat. Der Verfasser dieser Zeilen wurde in dem Jahr geboren, in dem Eastwood „Ein Fremder ohne Namen“, seinen zweiten Spielfilm und ersten Western als Regisseur inszeniert und gleichzeitig seinem Mentor Sergio Leone Ehre erwiesen und sich vom ihm freigemacht hat.
Als Knaben wurden wir ebenso wie der Knabe in „Honkytonk Man“ mit der Fehlbarkeit und Sterblichkeit von Helden vertraut gemacht. Als junge Männer hat uns „Unforgiven“ gelehrt, „Deserve‘s got nothin‘ to do with it“. Als junge Familienväter mussten wir uns bei “Mystic River” unseren schlimmsten Ängsten stellen. Und als nicht mehr ganz so junge Männer konnten wir uns mit dem alternden Helden von „Gran Torino“ identifizieren und am Ende endlich kapieren, welche Konsequenzen Gewalt und Selbstjustiz wirklich nach sich ziehen.
Eben weil Clint Eastwood selbst im Rentenalter noch immer fleißig geblieben ist und uns kontinuierlich filmisch durchs Leben begleitet hat, konnte uns sein spätes Spätwerk so furchtbar enttäuschen. Und eben weil niemand so sehr an der Vergangenheit hängt und so schlecht mit Enttäuschungen umgehen kann wie wir alten Männer, freuen wir uns wie Schnitzel, Schneekönige, Bolle oder Honigkuchenpferde, wenn unser Held und alter Begleiter nach mehr als einem Jahrzehnt endlich einen Film macht, der ihm und uns nicht peinlich sein muss.
It was raining and I hit something
Peinlich muss „Juror #2“ niemandem sein. So wahnsinnig stolz muss aber vor allem Erstlings-Drehbuchautor Jonathan A. Abrams nicht darauf sein, dem Klassiker „Die Zwölf Geschworenen“ (100% auf rottentomatoes) einfach einen zusätzlichen „überraschenden Dreh“ verpasst zu haben. (Ich will gar nicht wissen, wie oft dieses Drehbuch Studiobossen und anderen Entscheidungsträgern als „12 Angry Men with a twist“ angepriesen wurde) Denn gerade dieser „überraschende Dreh“ ist leider ziemlich doof und wirklich sehr unrealistisch. Ich verrate hier übrigens nicht zu viel, weil der Trailer zum Film diesen „überraschenden Dreh“ minutiös in allen Einzelheiten erklärt.
Meine Angst vor Spoilern hält sich in Grenzen (ganz anders als bei der jungen Dame, die mir neulich tatsächlich vorgeworfen hat, „Wicked“ gespoilert zu haben, bloß weil ich erwähnt hatte, dieser Film würde an der Stelle enden, wo die Bühnenversion ihre Pause hat). Aber der Trailer zu „Juror #2“ verrät sogar wie die Nebenhandlung rund um eine Risikoschwangerschaft ausgeht. Seit im Trailer zu „Cast Away“ verraten wurde, dass Tom Hanks es irgendwann von der Insel weg schaffen wird, haben wir alle kaum einen dümmeren Trailer gesehen.
Zurück zum Drehbuch von Jonathan A. Abrams. Der hat sein Vorbild „Die Zwölf Geschworenen“ zwar durchaus studiert, in seinem edlen Bemühen aber Fehler des Vorbilds ignoriert, in sein eigenes Drehbuch übernommen und auf die Art noch verschlimmert. Nicht nur die einzelnen Geschworenen sondern praktisch jede Figur dieses Films ist ein bloßer Erfüllungsgehilfe der Handlung. Jede Figur dieses Films tut und lässt nur das, was es braucht um die Handlung funktionieren zu lassen. Und wir erfahren auch über jede einzelne Figur des Films nur das, was es braucht um die Handlung funktionieren zu lassen.
Der Held hat Fahrerflucht begangen. Aber hat er in den darauffolgenden Tagen lokale Nachrichten oder sonst irgendwie die Neuigkeit aus der Gegend verfolgt? Nein, hat er nicht. Ein Geschworener ist pensionierter Polizist. Aber fragen Staatsanwalt oder Verteidigung bei der Auswahl der Geschworenen danach? Nö, wozu auch? Der Ex-Cop fängt an, auf eigene Faust verbotene Ermittlungen anzustellen. Aber setzt er diese Ermittlungen fort, nachdem er aus dem Kreis der Verschworenen entfernt wurde? Nein, ohne den Reiz des Verbotenen hat er wohl keine Lust mehr. Vor Gericht wird die kriminelle Vergangenheit des Angeklagten erwähnt. Aber ob er Drogen verkauft, Rabattmarken gefälscht, Kontoverbindungen für nigerianische Prinzen erfragt oder alte Damen vom Nachttopf geschubst hat, erfahren wir nicht.
You know what to do
„Die Zwölf Geschworenen“ ist unter anderem deshalb ein Klassiker, weil der geniale Sidney Lumet es in seinem allerersten Spielfilm geschafft hat, so viel Spannung aufzubauen, dass man die Lücken des Drehbuchs ignorieren konnte. Und wie bereits 1957 darf man auch 2024 bei „Juror #2“ nicht allzu lange darüber nachdenken, warum ein Geschworener Fragen klärt, deren Klärung doch der Job der Polizei, der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung gewesen wäre. Und auch wenn die Regie des greisen Clint Eastwood nicht ganz mit der Leistung des jungen Sidney Lumet zu vergleichen ist, macht Eastwood als Regisseur einen viel besseren Job als Abrams als Drehbuchautor.
In „Juror #2“ sehen wir wieder Eastwoods geradlinigen, schnörkellosen und vor allem effizienten Stil, der oft an die großen Erzähler unter den amerikanischen Regisseuren wie John Ford, Howard Hawks oder Frank Capra erinnert und doch immer unverwechselbar bleibt. Eastwood weiß immer ganz genau was er tut. Und er weiß ganz genau, was es dazu braucht. Eastwood lässt sein Team vor und hinter Kamera einen guten Job machen, ohne sich jemals aufzuspielen.
Kameramann Yves Bélanger („The Mule“, „Der Fall Richard Jewell“) liefert klare, unmissverständliche Bilder, die zwar nicht ganz die schlichte Schönheit bieten, mit der uns Jack Green in einigen von Eastwoods besten Filmen zu beeindrucken wusste, die aber sowohl dem Stil als auch der Story des Films entsprechen. Die Musik von Mark Mancina („Vaiana 2“) hat nicht ganz die unaufdringliche Eleganz der Klänge, mit denen der verstorbene Lennie Niehaus Eastwoods beste Arbeiten untermalt hat, drängt sich aber nie in den Vordergrund.
Die Besetzung lässt wieder erkennen, dass Eastwood seine Darsteller*innen weniger „inszeniert“ als ihnen viel mehr die Gelegenheit gibt, ihr Bestes zu zeigen. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Die großartige Toni Collette („Muiels Hochzeit“, „Nightmare Alley“) überspielt die Ungereimtheiten ihrer Rolle kongenial. Der stets verlässliche J. K. Simmons („Red One: Alarmstufe Weihnachten“, „Spider-Man“) kann sich in einer Rolle behaupten, die gar nicht funktionieren dürfte. Andere Darsteller*innen wie Zoey Deutch, Chris Messina oder Kiefer Sutherland wissen mit ihren als reine Handlungselemente geschriebenen Rollen nichts anzufangen und hinterlassen wenig Eindruck.
Nicholas Hoult konnte zuletzt in Filmen wie „Edison: Ein Leben voller Licht“ oder „Nosferatu“ nicht immer überzeugen. Als „Juror #2“ gelingt ihm das Kunststück, die schwach geschriebene Rolle eines schwachen Mannes stark zu gestalten. Dieser Kerl müsste uns unsympathisch sein, trotzdem hegen wir Sympathie. Die hegen wir zwar weniger für die Figur als viel mehr für Nicholas Hoult, der hier teilweise an einen jungen James Stewart oder Gary Cooper erinnert, aber sei’s drum.
Fazit
Man darf sich freuen, wenn der hochbetagte Clint Eastwood nach langem wieder mal einen gelungenen, unterhaltsamen Film inszeniert hat. Das extrem schwache Drehbuch und einige schwache darstellerische Leistungen verhindern aber das Meisterwerk, das andere Kritiker hier erkennen wollen.
Unterstütze CinePreview.DE:
|
Ähnliche Kritiken
Der Hauptmann
Robert Schwentke hat mit „Der Hauptmann“ einen überraschenden Film gemacht.
Überraschend ist das Thema. Überraschend ist auch, wie das Thema behandelt wird. Der Film ist überraschend ehrlich, überraschend originell, überraschen...
One for the Road - Kinostart: 26.10.2023
Wer trinkt nicht gerne mal einen über den Durst? Deswegen ist man doch ...
... noch lange kein Alkoholiker. Denkt sich auch Mark, gespielt von Frederick Lau, der einfach gerne feiert. Party macht. Spaß hat. Wieso sollte man sich da schon eingestehen, dass man ein Pr...
Song to Song
Das neue Projekt von Terrence Malick ist ganz im Stil seiner bisherigen Produktionen. Song to Song ist ein ...
... dokumentarisch anmutendes Filmfragment ohne klares Ziel, mit dabei sind wie immer hochkarätige Schauspieler.
Die Welt kreist nun einmal um s...
Deutsches Haus - Disney +-Start: 15.11.2023
Mit dieser deutschen Origin Serie wagt sich Disney Plus nach ...
... SAM - EIN SACHSE erneut an ein gesellschaftlich relevantes Thema. Mit einem beeindruckenden Schauspieler-Ensemble. Aber zieht uns die auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte auch in den Bann?
...