Silent Night: Stumme Rache - Kinostart: 14.12.2023

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Schon wieder ein Actionfilm in dem ein jemand ein Familienmitglied rächt?
 
Hatten wir das nicht schon ein paar Tausend Mal? Aber vielleicht unterscheidet sich der neue Film von Regisseur John Woo doch ein wenig von anderen derartigen Filmen?
 
Stille Nacht, heilige Nacht ...
 
Ein Luftballon schwebt zum Himmel. Ein blutbeschmierter Mann verfolgt verzweifelt zwei Autos, deren Insassen sich ein Feuergefecht liefern. Einer der Insassen schießt dem Mann ins Bein und anschließend in den Hals. Im Krankenhaus wird das Leben des Mannes gerettet. Aber der Schuss in den Hals hat dem Mann die Fähigkeit zu sprechen genommen. Bald erfahren wir, warum er die beiden Fahrzeuge verfolgt hat ...
 
Im Jahr 1818 bat der Hilfspfarrer Josef Mohr den Schullehrer und Organisten Franz Gruber eine Melodie zu einem von ihm bereits zwei Jahre zuvor verfassten Gedicht zu komponieren. Das Lied wurde am Heiligen Abend in der Nikolauskirche in Oberndorf bei Salzburg von den beiden uraufgeführt ... in Ordnung, ich höre schon auf. Diesmal muss ich nicht erst über irgendetwas anderes schreiben, bevor ich zum eigentlichen Thema der Rezension komme. Dafür ist John Woos erster in den USA entstandener Film seit 20 Jahren viel zu interessant.
 
„Silent Night“ ist NICHT der typische Mein Kind/meine Frau/mein Hund/mein Goldfisch-ist-tot-und-nun-muss-ich-ganz-viele-Leute-totschießen-Actionfilm. Er ist mehr eine Meditation über dieses besondere Subgenre. Wer also die übliche „Death Wish“-Leier oder einen Schlager im Stil von „John Wick 3“ erwartet, wird von John Woo („Face/Off“, „Paycheck“) ganz neue Töne zu hören bekommen.
 
Zunächst einmal kommt John Woos neuer Film fast vollständig ohne gesprochenen Dialog aus. Ich gebe zu, als ich zum ersten Mal von diesem Konzept gehört habe, hielt ich nicht viel davon. Ich befürchtete eine Fingerübung, mit der ein alternder Meister seines Fachs nochmal zeigen wollte was er kann. Aber das Konzept des „sprachlosen“ Films nach einem Drehbuch des noch recht unbekannten Autors Robert Archer Lynn geht unter Woos kompetenter Regie präzise auf und ergibt absolut Sinn.
 
Schmerz und Verlust, wie ihn die Hauptfigur im Film erleben muss, sind kaum in Worte zu fassen. Und später ist es die Unfähigkeit dieses Mannes, mit seiner Frau zu sprechen, die zu weiterem Verlust führt. Der Film zeigt auch, wie sinnlos Rache ist. Jedes Wort der Erklärung oder Rechtfertigung dieser Rache könnte nur lächerlich klingen. Und so vermeidet „Silent Night“ die Fehler anderer Filme seines Subgenres und gibt sich und seine Geschichte nicht durch rechtfertigenden Dialog der Lächerlichkeit preis.
 
Seit Jahren hadere ich mit Filmen, die uns ihre Geschichten ständig im Dialog erklären, statt sie uns einfach zu zeigen. Regisseur John Woo arbeitet hier meisterhaft mit den Drehorten, der Ausstattung und vor allem seinen Darstellern. Er erzählt sämtliche Nuancen der Geschichte seines Films klar und deutlich mit Bildern und treibt so die Handlung voran.
 
In keiner Szene fehlt uns der Dialog. Und je länger der Film andauert, umso klarer wird uns, wie oft sich andere Filmemacher von überflüssigem Dialog von der Erzählung ihrer Geschichten ablenken lassen. Das vergrößert doch nur die Distanz zum Publikum. Aufmerksamen Filmfans muss man nicht immer alles haarklein erklären. Im Leben nehmen wir auch wahr was geschieht, selbst wenn es uns nicht ständig erläutert wird.
 
In diesem Film erleben wir den Schmerz der Figuren, aber auch ihre Entwicklungen. Wir sehen, wie die Eheleute auseinander driften, wenn die Frau gar nicht mehr aus dem Auto aussteigen möchte, wenn sie alleine die Rechnungen begleicht während der Mann seine Rache vorbereitet. Wir sehen die Frau in frühen Szenen für den Mann stark sein und zunächst noch alleine weinen. Später sehen wir sie gehen, weil sie auch mit ihrem Mann nur alleine war. Mit ihm alleine zu sein schmerzt, ohne ihn kann sie heilen.
 
 
Alles schläft, einsam wacht ...
 
Wir erleben auch die Entwicklung des Mannes. Und diese Entwicklung ist keine Heilung. Wir sehen wie er fast ein Jahr lang seine Rache vorbereitet. In diesem Film kann der Held nicht einfach losziehen und Leute totschießen. Er muss sich die Waffen nicht nur besorgen (Ja, es sind Berettas. Bei John Woo sind es immer Berettas. Und ja, der Mann besorgt sich zwei Stück. Bei John Woo sind es immer zwei Berettas.), er muss auch lernen damit umzugehen. Und das lernt man nur durch monatelanges Training und nicht anhand eines youtube-Videos.
 
Sogar brutale Gewalt muss sich entwickeln. Und auch diese Entwicklung erleben wir mit. Wir sehen den Mann beim monatelangen Nahkampftraining. Und dann verläuft eine erste zufällige körperliche Konfrontation für ihn einfach nur erniedrigend. Und auch eine zweite, vorsätzlich herbei geführte Auseinandersetzung verläuft nicht annähernd so, wie der Mann und das Publikum es erwartet hätten.
 
Natürlich kommt es dann irgendwann doch zum bewaffneten Showdown. Und natürlich weiß John Woo immer noch, wie so etwas zu gestalten ist. Die Szenen wilder Autoverfolgungsjagden sind nicht die größte Stärke des Films. In dieser Hinsicht sind wir mittlerweile im Kino anderes gewöhnt. Aber ein scheinbar in einer einzigen Einstellung gedrehtes Feuergefecht, währenddessen sich der Mann ein Treppenhaus hinaufkämpft, ist als bizarres Ballett des Wahnsinns inszeniert.
 
Eine Schwäche des Drehbuchs sind die Schurken. Verschiedene unbekannte Schauspieler müssen daher die üblichen Stereotypen von ständig gewaltbereiten, unter Drogeneinfluss stehenden Gangstern darstellen. Dass kein einziger von diesen durchgeknallten, animalisch agierenden Kriminellen weiß ist und wir nur Latinos und Asiaten in diesen kaum als menschliche Wesen erkennbaren Rollen gezeigt bekommen, verleiht dem Ganzen einen unangenehmen Beigeschmack.
 
Der Rapper und Schauspieler Kid Cudi („Don’t Look Up“) ist in der eher unergiebigen Rolle des ermittelnden Polizeibeamten zu sehen. Sein Part ist ein reines Handlungselement.
 
Die Kolumbianerin Catalina Sandino Moreno („Maria voll der Gnade“) vermeidet in der Rolle der Ehefrau die gängigen Klischees. Sie vermittelt, den Versuch für ihren Mann stark zu sein ebenso wie die Einsicht, nun für sich selbst stark sein zu müssen.
 
Joel Kinnaman konnte weder im missglückten Remake von „Robocop“, noch in Filmen wie „Run All Night“ überzeugen. Erst in James Gunns „The Suicide Squad“ konnte er eine gewisse Wirkung vermitteln (wichtig: James Gunn, nicht David Ayer und „The Suicide Squad“ und nicht bloß „Suicide Squad“).
 
In „Silent Night“ könnte seine Darstellung zunächst verunsichern. Kinnamans Figur wirkt in einzelnen Szenen unreif. In einer Szene, in der er einen Mustang startet, der ein weiteres Werkzeug seiner Rache werden soll, vermittelt sein Gesichtsausdruck beinahe Wahnsinn. Aber das Konzept von Rache ist unreif. Und das Vorhaben des Mannes ist Wahnsinn. Kinnaman spielt also teilweise unreif und wahnsinnig und zeigt damit eine – vor allem am Standard des Genres gemessen - ungewohnt reife und ausgeglichene Leistung.
 
 
Fazit
 
Man kann aus jedem Film und aus jedem Genre etwas Besonderes machen. Man braucht dazu nur einen Könner, der sich traut, einmal etwas anderes zu versuchen. John Woo hat mit diesem sicher nicht perfekten, aber hochinteressanten Film allen Filmfans ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk gemacht.
 
 
 
 
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Weitere Informationen

  • Autor:in: Walter Hummer
  • Regie: John Woo
  • Drehbuch: Robert Archer Lynn
  • Besetzung: Joel Kinnaman, Kid Cudi